Herbert Mai

Gewerkschaft Öffentliche Dienste, Transport und Verkehr
Gewerkschaft Öffentliche Dienste, Transport und Verkehr
Video 2 – 5:01
Streiki
Arbeitslosigkeiti
Tarifvertragi
Video 3 – 2:17
Arbeiter_ini
Arbeitsdirektori
Aufsichtsrati
Betriebsrati
Mitbestimmungi
Betriebsvereinbarungi
Mein Vater war ungelernter Gleisbauarbeiter und meine Mutter kam aus Wien, die hat er aus dem Krieg mitgebracht, was noch eine wichtige Rolle spielte in meinem späteren Erleben und meiner Entwicklung auch hin zur Gewerkschaft oder zur Politik. Ich bin dann mit zur Schule gegangen in diesem kleinen Dorf in diesem kleinen Dorf, Dalheim-Rödgen am Niederrhein, zur Volksschule, und habe da schon meine ersten Erlebnisse gehabt, weil wir, da die Mutter ja aus Wien kam, so als Fremde betrachtet worden sind. Also, wir waren nicht aus dem Ort alle kommend, nur mein Vater, meine Mutter nicht. Mein Bruder ist sogar in Wien geboren, ich in diesem kleinen Ort geboren, aber von vielen, sowohl von dem Lehrer als auch von den Bewohnern in diesem kleinen Dorf, wurden wir doch eher als Zugereiste betrachtet, die nicht ganz so da hingehörten. Und dann habe ich schon als kleines Kind, mit vier, fünf, sechs Jahren erlebt, wie man da ausgegrenzt wurde, bei bestimmten Aktivitäten oder bei Spielen, bei Dingen, die im Dorf stattfanden. Und das war so mein erstes Erlebnis, was ich so nicht ganz positiv und gut fand und auch mir als Kind gar nicht erklären konnte, was ist die Ursache dafür, dass ich da so geschnitten werden auch von den anderen Kindern oder von auch den Erwachsenen. Nicht von allen, muss man sagen, aber doch von großen Teilen dieser Erwachsenen. Dann war das zweite Erleben, der Niederrhein ist ja sehr dominiert von der katholischen Kirche, zumindest in der damaligen Zeit. Und es wurde sehr viel Wert darauf gelegt, dass man auch Aktivitäten entfaltete innerhalb dieser Kirche. Entweder als Messdiener, dass man regelmäßig zur Kirche ging. Und mein Elternhaus war so nicht gepolt. Wir waren zwar, auch ich, katholisch, aber wir gingen halt nur ganz selten in die Kirche und haben uns da auch nicht so eingefügt, wie es erwartet wurde. Und da habe ich dann schon zum ersten Mal Dinge erlebt, auch als Kind im ersten, zweiten Schuljahr, der Intoleranz. Diese Meinung, diese Auffassung wurde nicht toleriert. Es wurde erwartet und dann auch mehr oder weniger mit Maßnahmen gezwungen, dass man halt zur Kirche gehen musste oder gehen sollte. Und es stand schon so was wie ein Zwang dahinter, den ich als Kind auch sehr, sehr negativ, sehr drückend und bedrückend empfunden habe. Das war eine Situation, an der ich viel zu knabbern hatte und die später auch dazu geführt hat zu sagen, so willst du nie selber werden oder so willst du nie selber auch andere Menschen unter Druck setzen oder in Zwangssituationen bringen, Dinge zu tun, die sie eigentlich gar nicht wollen. Wir sind dann 1954 in eine größere Stadt gezogen, Rheydt, heute ein Stadtteil von Mönchengladbach, und bin dort dann zur Volksschule weitergegangen und auch zur Realschule. Und schon in der Volksschule war dann wieder ein neues Erleben, wieder mit dem Pfarrer der katholischen Kirche, der sehr intolerant war und eine Steigerung, die ich da erlebt habe als Kind, die ich mir halt nie so vorstellen konnte. Nämlich, wer nicht zur Kirche ging am Sonntag – es wurde Montagmorgen abgefragt –, der bekam mit dem Lineal zehn Schläge auf die flache Hand, um zu lernen, auch zur Kirche zu gehen. Das heißt, das, was die Kirche vorgab, christliche Nächstenliebe, Toleranz, Verständnis, war in der Praxis überhaupt nicht feststellbar, sondern eher im Gegenteil, es war Gewalt, es war Druck, es war Zwang, der ausgeübt wurde, der dazu geführt hat, dass ich mich dann schon sehr bedroht fühlte und auch abgewandt habe. Das war ein Punkt, der dann später von mir sofort umgesetzt wurde, nämlich mit dem 14. Lebensjahr bin ich aus der Kirche ausgetreten. Da hatte ich den Mut, zum Amtsgericht zu gehen, meine Eltern waren zwar dagegen, aber ich habe es dann trotzdem gemacht, weil ich gesagt habe, das kann ich nicht so akzeptieren, diese Intoleranz, die man dort erlebt. Dann bin ich 1955 zum Gymnasium in Rheydt und habe dann das dritte Erlebnis gehabt, in einer Grundlage auch für späteres Handeln und Denken. Wir waren in der Sexta, Gymnasium, rund 50 Kinder, das waren sehr viel, wurden alle aufgenommen. Aber der Klassenlehrer hat dann gleich zu Beginn des Schuljahrs gesagt: Und er will eins klarstellen, am Ende werden wir in dieser Klasse in der Quinta, also im zweiten Schuljahr, nur noch die Hälfte sein, weil er dafür sorgen wird, dass alle die, die aus dieser Eisenbahnersiedlung kommen, das zweite Jahr nicht mitmachen können, das heißt, das erste nicht überleben. Die werden dann entweder sitzenbleiben oder gehen freiwillig von dieser Schule, weil, dieses Gymnasium ist eher für andere Schichten der Bevölkerung als für die, die damals in der Eisenbahnersiedlung wohnten. Das war eine neu gebaute Eisenbahnersiedlung für Gleisbauarbeiter, Heizer, Lokführer, also alle die, die aus dem Arbeiterbereich bei der Bahn gearbeitet haben wie mein Vater. Und das Erlebnis war auch dann sehr einschneidend, das hat sich auch umgesetzt, die Hälfte. Und merkwürdigerweise, alle, die aus dieser Siedlung kamen, haben das erste Jahr nicht erlebt, sind nicht versetzt worden und sind dann entweder zurück zur Volksschule oder zur Realschule. Und dieses Erlebnis der sozialen Ausgrenzung, das war mit ein Motiv für mich, dann auch als Kind schon daran zu denken, das musst du verändern, das kann man nicht so akzeptieren, dass die, die sozial eher in der unteren Schicht sind – Vater eben einfacher Arbeiter gewesen –, dass die keine Chance haben, obwohl ich in der Volksschule sehr gut war, dann weiterführende Schulen zu besuchen, weil die Lehrer aus einer anderen Gesellschaftsschicht kamen und dafür sorgten, dass auch nur ihre Schicht dann weiter das Gymnasium besuchen konnten, wobei man sagen muss, es war Anfang der 50er-Jahre, also 54, 55, sicher ein anderes Denken als heute, aber ein sehr prägendes Denken für mich.
Der öffentliche Dienst hatte bis in die 80er-Jahre immer zugenommen, jedes Jahr wurden wir eingestellt, und in den 80er-Jahren begann dann langsam ein Zurückdrehen von öffentlichen Aufgaben. Es gab Privatisierungsdebatten, es gab durch Einführung von Technik und vielen anderen Sparprogrammen der Kommunen und der Länder auch einen Rückgang von Arbeitnehmern und damit auch einen Rückgang von Mitgliedern. Bis dahin hat die Gewerkschaft ÖTV immer zugenommen an Mitgliedern, jedes Jahr, bis weit über eine Million. Und dann begann langsam die Situation, dass man nicht so einfach mehr organisieren konnte, dass man weniger Potenzial hatte. Und diesen Fragen, woran das liegt, denen musste man sich in den 80er-Jahren auch sehr, sehr intensiv stellen. Wobei ich im Nachhinein der Meinung bin, dass wir uns – mich eingeschlossen auch – zu spät dieser Frage gestellt haben, erst als es dann gar nicht mehr wegzudiskutieren war, als es dramatischer wurde, Mitgliederrückgang als ein Beispiel, strukturelle Veränderung der Arbeitnehmer, also nicht mehr der normale Vollarbeitsplatz war dann unser Mitglied, sondern es gab dann viele Teilzeitbeschäftigte. Sich diesen Fragen zu widmen, wo kommt das her, muss ich da Einfluss nehmen, wie kann ich deren Interessen wieder vertreten, das haben wir zu spät gemacht aus meiner Sicht, aber wir haben es dann in den 80er-Jahren gemacht, haben uns dieser Frage dann auch gestellt. Dann gab es einen wesentlichen Einschnitt auch in meiner gewerkschaftlichen Erfahrung, Aktivität, oder es waren zwei. Es war einmal der Streik 1974 für den öffentlichen Dienst, das war der erste bundesweite Streik überhaupt im Bereich von öffentlichen Dienstleistungen. Heinz Kluncker hat ihn damals ja geführt, Dreitagesstreik, flächendeckend. Es ging um gigantische Forderungen, nämlich elf Prozent, mindestens 170 D-Mark. Wurde durchgesetzt, Forderung war 15 Prozent, mindestens 180 D-Mark. Man muss natürlich nur wissen, dass damals auch die Inflation größer war, die war acht Prozent. Viele hängen ja diesen Forderungen hinterher, vergessen aber dann die Entwicklung, die wirtschaftlich dem zugrunde lag. Die Arbeitgeber hatten ja darunter angeboten und damals gab es die Äußerung von Bundeskanzler Brandt, nicht über zehn Prozent, das würde die Gesellschaft in Schwierigkeiten bringen und die öffentlichen Haushalte. Und Heinz Kluncker war der Meinung, nein, es muss aber dann elf Prozent sein, der öffentliche Dienst hat Nachholbedarf an Einkommen, was stimmte. Wir haben eine hohe Inflation, das heißt, wir brauchen diese elf Prozent. Im Nachhinein wurde da ja immer behauptet, Heinz Kluncker habe den Brandt gestürzt mit dieser Situation. Aus meiner Sicht trifft das absolut nicht zu, weil, parallel lief ja die Guillaume-Affäre, die der eigentliche Auslöser war für den Rücktritt von Willy Brandt, und nicht diese Tarifrunde des öffentlichen Dienstes. Aber zurück zu der inneren Sicht! Es war damals für uns ganz wichtig, dass die ÖTV einmal gestreikt hat und sie einmal bewiesen hat, sie kann es, sie kann Streiks, sie kann Interessen vertreten. Wir haben damals allerdings mit diesem Streik verbunden, dass jetzt alleine eine Drohung des Streiks ausreicht, um Forderungen durchzusetzen. Und haben nicht gesehen zur damaligen Zeit, 74, dass es immer auch von den Rahmenbedingungen abhängt der wirtschaftlichen Entwicklung, der Inflation, der hohen Arbeitslosigkeit oder auch nicht, ob man eine Forderung durchsetzt oder nicht. Und das haben wir dann natürlich in den Jahren danach, sehr schnell auch ich, gelernt, dass man nicht Forderungen aufstellen, streiken, durchsetzen, reden kann, sondern dass es von vielen Faktoren abhängt, ob ich als Gewerkschaft die Interessen auch noch nach Lohnerhöhungen und besseren Arbeitsbedingungen durchsetzen kann, ja oder nein. Und so kommt ja gerade in den 80er-Jahren noch hinzu die ganze Aktualität für Arbeitsplätze. Es gab ja eine hohe Arbeitslosigkeit, die stieg dann im Rahmen von Wirtschaftskrisen, was natürlich die gewerkschaftliche Macht immer eingeschränkt hat. Je mehr Arbeitslose ich habe, desto mehr, ist klar, habe ich Druck auf dem Arbeitsmarkt, desto mehr habe ich Druck auf Arbeitsbedingungen, auf Löhne und auch auf die öffentlichen Dienstleistungen, was dann die Strukturveränderung wieder mit sich gebracht hat. Das war ein Punkt, den wir dann auch sehr schnell erfahren haben, auch lernen mussten, dass man da in der Tat abzuwägen hat, wie weit kann ich gehen, wie weit kann ich durch Streik etwas durchsetzen oder auch nicht.
Ich denke, Mitbestimmung kann immer funktionieren, auch in Betrieben, denen es wirtschaftlich nicht so gut geht oder die Abschwünge erleiden müssen. Aber es geht dann natürlich nicht, dass man Dinge aufbaut, zusätzliche Kostenfaktoren schafft. Das wird nicht machbar sein, und man kann sozialverträgliche Dinge schon tun im Wege der Mitbestimmung. Man kann einige Dinge verhindern. Auslagerungen oder Schließungen von Betrieben, das denke ich schon. Und die Erfahrungen in den beiden Krisensituationen 2001 und 2008 haben mir gezeigt, auch wenn man wusste, irgendwann geht es ja wieder aufwärts, aber keiner wusste, wann, dass man Dinge regeln kann mit Mitbestimmung, besser als ohne. Weil die vorschnellen Controller und Finanzvorstände sagen natürlich sofort, also, jetzt haben wir das weniger an Einnahmen, das weniger an Verkehr, das heißt, wir müssen jetzt 200 Millionen einsparen. Das machen wir, Punkt eins, Abbau von Arbeitsplätzen X, Punkt zwei Ausbildungen weniger, Punkt drei, Fortbildungsprogramme weniger – die haben ja sofort so Programme aus der Schublade, oder die Berater ziehen, es ist ja überall gleich. So, und wenn man da keine Mitbestimmung hat und gegenhalten kann, hat man schlechte Karten. Insofern denke ich, auch in Krisenzeiten ist Mitbestimmung ein ganz wichtiger Faktor und Auslöser auch für Kompromisse. Dass man dann gemeinsam guckt, muss ich das denn wirklich tun? Also dann überzeugen kann. Viel Arbeit, viel Diskussion auch im Vorstand, manchmal auch im Aufsichtsrat. Ja, muss ich denn jetzt wirklich Arbeitsausbildung aufgeben, muss ich so viele Arbeitsplätze abbauen, oder kann ich nicht andere Wege gehen? Und wir sind andere Wege gegangen, bis hin zu der Betriebsvereinbarung, wenn in bestimmten Prozentzahlen – ich glaube, neun Prozent waren es – der Verkehr abnimmt, dass dann der Betriebsrat mitgeht, dass wir Einkommensreduzierungen machen können. Aber in Rettung aller Arbeitsplätze. Wir wollen keine Arbeitsplätze abbauen, weil wir irgendwann ja die Leute wieder brauchen. Das war klar. Und solche innovativen Wege kriegst du nur hin, wenn du Mitbestimmung machst und die Betriebsräte dich unterstützen und Gewerkschaft am Ort da ist, präsent ist. Und nicht sagt, der Arbeitsdirektor ist der Büttel des Kapitals, was der macht, ist eh alles Mist. Wir kämpfen hier, machen eine Demo, und am Ende sind doch 1.000 Arbeitsplätze abgebaut. Das bringt nicht allzu viel. Da bin ich lieber ergebnisorientiert, wenn ich es schaffe, per Kompromiss hinzubekommen.
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Herbert Mai wurde am 5. September 1947 in Dalheim-Rödgen im heutigen Kreis Heinsberg (NRW) geboren. Nach seinem Realschulabschluss 1964 begann er ein zweijähriges Verwaltungspraktikum beim Land Nordrhein-Westfalen. Die daran anschließende Ausbildung für den gehobenen Verwaltungsdienst schloss er 1969 ab. Danach war er als Regierungsinspektor beim Regierungspräsidium in Düsseldorf tätig.

In die Gewerkschaft ÖTV trat Mai 1964 ein, im folgenden Jahr wurde er Mitglied der SPD. Gewerkschaftlich engagierte er sich bereits während der Ausbildung als Vertrauensmann, Jugendvertreter und Mitglied des Kreisjugendausschusses. 1966 folgte seine Wahl in den Bezirks- und Bundesjugendausschuss. Mais hauptamtliche Tätigkeit für die Gewerkschaft begann 1971 als Bezirksjugendsekretär für die ÖTV Hessen. Bis 1982 stieg er zum Bezirksvorsitzenden auf.

Auf dem außerordentlichen Gewerkschaftstag der ÖTV 1995 in Hannover wurde Mai zum Nachfolger Monika Wulf-Mathies‘ gewählt. Auf internationaler gewerkschaftlicher Ebene war er ab 1996 als Präsident des Europäischen Gewerkschaftsverbandes für den Öffentlichen Dienst (EDGÖ) aktiv. Als Vorsitzender der ÖTV trat er entschieden für die Gründung der Vereinten Dienstleistungsgewerkschaft ver.di ein. Nach einer Abstimmungsniederlage im Vorfeld der Fusion zu ver.di trat Mai im November 2000 von seinem Amt zurück.

Anschließend wurde Mai Arbeitsdirektor im Vorstand des Flughafenbetreibers Fraport AG. In dieser Position war er Mitglied des Präsidiums der Vereinigung der kommunalen Arbeitgeberverbände (VKA) und zugleich Vorsitzender der VKA-Fachgruppe Flughäfen. Seit Oktober 2012 befindet sich Mai im Ruhestand.

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