Willi Mück

Gewerkschaft Öffentliche Dienste, Transport und Verkehr
Gewerkschaft Öffentliche Dienste, Transport und Verkehr
Audio 1 - 2:01
Wiedervereinigungi
Audio 2 3:26
Unternehmeni
Audio 3 4:12
Arbeitgeberi
Audio 4 5:57
Wiedervereinigungi
Mit der Entwicklung in der DDR befasst haben wir uns zum ersten Mal am 10. November 1989. Es gab eine normale Sekretärsbesprechung im Vorstandssekretariat 6. Wir haben uns mit den Aufgaben des S 6, die erledigt werden müssen, beschäftigt. An diesem Tage fand abends in Berlin jene Veranstaltung mit Willi Brandt, Helmut Kohl und Genscher statt. Wir sind in der Kellerschenke gewesen, haben etwas gegessen und sind von dort aus zu mir ins Büro. Dort haben wir das Fernsehen angemacht und diese emotional stark beeindruckende Veranstaltung vor dem Schöneberger Rathaus erlebt. Anschließend haben wir im kleinen Kreis von Sekretären überlegt, welche Folgen die Maueröffnung für die ÖTV haben könnte. Niemand ist dabei auf die Idee gekommen, dass das sehr schnell für uns etwas bedeuten könnte. Wir waren alle sehr von diesem Ereignis bewegt. Doch niemand von uns hatte sich in den letzten Jahren mit der Frage der DDR auseinandergesetzt. Das war kein Thema. Niemand ist rübergefahren, niemand hat sich darum gekümmert und niemand wusste, wie es um die damalige DDR bestellt war. Das hat dazu geführt, dass wir deshalb an diesem Abend, in gewisser Weise alle gemeinsam, ein schlechtes Gewissen hatten und so überrascht waren.
Auch andere Betriebe in Berlin sind natürlich auf die ÖTV zugekommen und haben um intensive Betreuung gebeten. Das gleiche galt für die grenznahen Kreisverwaltungen von Mecklenburg-Vorpommern bis runter nach Sachsen. Die Belastung, die diese Kreisverwaltungen in den grenznahen Regionen auf sich genommen haben, war unglaublich. Es hat im Grunde genommen keine interne Arbeit mehr stattgefunden, sondern es war Arbeit in Ostdeutschland. Das aber war nicht genug, sondern es war klar, dass man auch in den grenzferneren Regionen etwas tun müsste. Diese Arbeit hat sich ebenfalls ganz vernünftig entwickelt, weil in den letzten Jahren durch Städtepartnerschaften Kontakte entstanden sind, die sich jetzt auf einmal sehr positiv darstellten und auswirkten. Z.B. hatte die Stadt Bochum eine Städtepartnerschaft mit Nordhausen in Thüringen, und wir sind, ohne große Umstände zu machen, hingegangen und haben dort Unterstützungsarbeit geleistet. Da hat sich gezeigt, daß auch eine Zusammenarbeit möglich ist zwischen unterschiedlichen Interessengruppen, die sonst in Gegensätzen leben. Also, dass auf einmal die Stadtverwaltung, Unternehmer und die ÖTV gesagt haben, wir wollen etwas gemeinsam aufbauen, das ist ein ganz neues Erlebnis gewesen. Der Klassenkampf wurde einfach mal ein Stück weit zurückgestellt. Also Bochum und Nordhausen sind ein Beispiel, oder um eine Region zu nehmen: Das Saarland. Die Stadt Saarbrücken hatte seit einigen Jahren vor der Wende eine Städtepartnerschaft mit Cottbus. Und das führte dazu, ohne dass wir etwas tun mussten, dass sich unsere Bezirksverwaltung Saar in Saarbrücken nach Cottbus begeben hat und dort Hilfestellung leistete. Weit weg an der polnischen Grenze quasi. Es gab auf einmal alle möglichen Kooperationen. Landesregierung Saar, Stadt Saarbrücken, öffentliche Verwaltung, Private und ÖTV und was weiß ich, haben zusammen dort Unterstützung geleistet. Das war ein Erlebnis besonderer Art, aus dem man gewerkschaftspolitische Konsequenzen ziehen sollte. Denn, wenn es um Krisen geht in unserer Gesellschaft, und der Zusammenbruch der DDR war eine Krisensituation, dann lässt sich hier lernen, wie man sie bewältigen kann. Das geht wahrscheinlich zu schnell unter. Für uns war das ein ganz wichtiger Punkt, dass wir nicht nur entlang der Grenze, die damals noch bestand, uns bewegt haben, präsent waren, sondern punktuell aber trotzdem überall in der damaligen DDR.
Die Personalauswahl, was soll ich dazu sagen. Das funktioniert oder das funktioniert nicht. Das kann man nicht auf einem offenen Markt austragen, das läßt sich nicht in großer Runde diskutieren, sondern da muß man Gespräche führen unter vier Augen, sich in die Augen schauen und fragen, geht es oder geht es nicht. Diese Gespräche habe ich mit den Bezirksvorsitzenden geführt, die Bezirke waren ja gefordert, Personal abzustellen, und natürlich mit den betroffenen Kolleginnen und Kollegen. Aus der Hauptverwaltung mußten wir zwei Kollegen abstellen, weil wir die Betreuung von zwei DDR-Bezirken übernommen hatten, Potsdam und Halle. In einem Fall war das ziemlich klar. Der Kollege hatte sich von sich aus angeboten. Es ist auch ein persönliches Erlebnis, wenn jemand, mit dem ich viele Auseinandersetzungen geführt habe, sich dann in einer solchen schwierigen Aufgabe bewährt – das würde heute mancher anders sehen. Für die zweite Stelle gab es einen politischen Kompromiß. Sie sollte mit einem Kollegen besetzt werden, der viele Probleme im Hause der Hauptverwaltung hatte und die auf diese Weise gelöst worden wären. Da war dann kein Ausweg, weil er dort, wo er eingesetzt war, neue Probleme geschaffen hat. Zur Personalauswahl ein offenes Wort: Es sind zum Teil Kollegen nach Ostdeutschland gegangen, nicht alle, selbstverständlich nicht, aber einzelne, die hier in Westdeutschland an ihrem angestammten Arbeitsplatz mit sich und mit der ÖTV und umgekehrt die ÖTV mit ihnen ziemliche Probleme hatten. Die Routine macht Menschen kaputt. Diese Kollegen sind zu Spitzenleistungen aufgelaufen in dieser Arbeit in der DDR und haben sich selbst in jeder Hinsicht physisch, psychisch und politisch wieder stabilisiert. Auch das war ein großartiges Erlebnis für mich persönlich, weil es ein Risiko war, zu sagen, genau du machst es Kollege oder Kollegin, wo viele andere gesagt haben, also das geht doch nicht, die sind doch kaputt oder so. Es fällt mir nicht leicht, das jetzt zu sagen, aber ich denke, das muß auch gesagt werden. Aus dem Kreis der Beratungssekretäre bzw. kommissarischen Geschäftsführer hat sich im Laufe der Zeit ein Team gebildet, das gemeinsam diese schwierige Aufgabe gehandelt hat und es sind Persönlichkeiten entstanden, die sich sehen lassen können und die ihren Platz in dieser Organisation haben und die auf sich selbst stolz sein können wie die ÖTV auf sie stolz sein kann. Das kommt leider nicht zum Ausdruck, weil oftmals in so einer Organisation vieles als Selbstverständlichkeit hingenommen wird, was keineswegs selbstverständlich ist und was ein normaler Betrieb, ein normaler Arbeitgeber draußen würdigen würde. Wir sind dazu nie in der Lage.
Also, der gewerkschaftliche Einigungsprozeß war ein Werk von einigen wenigen Leuten. Er war nicht die Überzeugung der Organisation, ich sage mal, es war nicht der Wunsch und der Wille der Organisation. Ich formuliere es mal so hart, wie ich das sehe, weil sich das heute auch zeigt. Aber – ich habe das immer so empfunden. Das hängt mit dem zusammen, was ich vorhin schon gesagt habe, daß eben eine politische Einstellung vorhanden war, die, auch bei mir, den Osten längst abgeschrieben hatte. Es ist leider nicht gelungen, als es im Osten brach, umzudenken und zu sagen, jetzt tragen wir eine gemeinsame Verantwortung. Das war eher lästig. Das wollten wir eigentlich nicht. Wir hatten uns ja bequem eingerichtet in unserer West-ÖTV. Es gab jedoch einige Leute, die sich für die gemeinsame Sache verantwortlich fühlten. Das waren diejenigen, die unmittelbar berührt waren, also die Grenznahen und die Berliner. Die hatten Kontakte und sind mit Begeisterung und mit dem Willen, gemeinsam etwas auf die Beine zu stellen, an die Arbeit gegangen. Es gab andere, die mehr mit einem karitativen Anspruch bereit waren, zu helfen. Ich will das überhaupt nicht bewerten. Die meisten jedoch haben gesagt, was soll der Scheiß, was im Osten passiert, wird uns im Westen Geld kosten. Das war ja abzusehen, und deshalb gab es keine große Bewegung in der ÖTV. Es war eine Bewegung, die einige Leute vollzogen und gemacht haben. Das setzt sich bis heute fort. Auf dem außerordentlichen Gewerkschaftstag zum Beispiel war für mich das schlimmste Erlebnis, daß ein westdeutscher Kollege, den ich eigentlich sehr schätze, aufstand und sagte: Bei den Kandidaten für den Hauptvorstand ist doch irgendetwas. Der eine Nebelkerze in die Gegend schmeißt, ohne Roß und Reiter zu benennen. Die kommissarischen Geschäftsführer und zwei, drei Kollegen sitzen gemeinsam mit mir den Rest der Nacht zusammen und versuchen die Sache zu klären. Am nächsten Morgen muß erst eine offizielle Aufforderung ausgesprochen werden, Namen zu nennen. Das fand ich schon schlimm. So etwas durfte man nicht machen. Da ist mir deutlich geworden, daß der Spaltpilz schon in der Organisation sitzt. Ansonsten war das ein Gewerkschaftstag, der bedauerlicherweise immer noch von Wessis dominiert wurde, obwohl es der Vereinigungskongreß war. Vor allem die Ostdeutschen hätten ihre Meinung und ihre Wünsche dazu sagen können. Aber wir waren zufrieden, daß die Ost-Kollegen mit den Spielregeln des Kongresses noch nicht vertraut waren. Diese Arroganz bringen wir aus dem Westen mit. Daß auf dem außerordentlichen Gewerkschaftstag in Nürnberg das Thema Ostdeutschland, das Thema Vereinigung fast keine Rolle gespielt hat, dass niemand, außer einer Kollegin aus Münster, glaube ich, danke schön gesagt hat für die Arbeit, die wir gemacht haben, das fand ich furchtbar. Für mich heißt das, daß dieses Stück Geschichte offensichtlich in der Organisation keine Rolle spielt oder man versucht, es herunterzuspielen. Schlimm. Organisationen leben ja nicht nur davon, daß sie ihre Inhalte vermitteln, ihren Organisationszweck umsetzen, sondern daß – ob das ein Sportverein ist, die Kirche, Gewerkschaften oder Parteien – auch eine Organisationskultur entsteht. Wenn das nicht gelingt, gelingt es auch nicht, dauerhaft sicherzustellen, daß der Organisationszweck realisiert werden kann. Dieses kulturelle Defizit besteht im Augenblick bei uns. Daß das, was geleistet worden ist von unseren ostdeutschen Kollegen, die sich in unsere Arbeit eingebracht haben wie auch teilweise von unseren Kollegen aus dem Westen, daß das keine Würdigung findet, daß wird der Organisation nicht gut tun, daß wird ihr lange, lange schaden. Irgendwann, denke ich mal, gibt es Leute, die sich daran rückblickend erinnern werden. Aber bis es soweit ist, geht zuviel kaputt.
Herunterladen Drucken

Willi Mück, 1948 geboren, war während der Wende Mitglied des geschäftsführenden Hauptvorstandes und stellvertretender Vorsitzender der ÖTV sowie Mitglied der sogenannten Steuerungsgruppe, in der die wichtigsten Entscheidungen zum Kurs der ÖTV hinsichtlich der Ereignisse in der DDR beraten wurden.

Nachdem er 1992 nicht mehr für die Wahl zum stellvertretenden Vorsitzenden kandidiert hatte, wurde er Geschäftsführer der ÖTV Service GmbH für Dienstleistungen. 2002 war Mück Initiator des Unterstützungs- und Vorsorgewerks für den Dienstleistungsbereich e.V., kurz u.di, dessen Vorsitzender er zugleich bis 2012 war. Danach fungierte er als stellvertretender Vorsitzender des ULV Versorgungswerks für Erziehungs-, Bildungs- und Sozialeinrichtungen - Unterstützung, Leistung, Vorsorge - e.V.

Herunterladen Drucken